Sprache oder Dialekt? -- Gar nicht so einfach

Wie kann man eigentlich eine Sprache von einem Dialekt abgrenzen? Dass dies nicht so einfach ist, welche Kriterien es hierbei aber doch gibt, soll hier gezeigt werden.

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Der kleine Max ist Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin. Er lebt in Deutschland. Eines Tages erklärt er seiner Freundin Laura, die damit prahlt, dass sie ja zwei Sprachen könne, nämlich Englisch und Deutsch, dass er das auch kann. Hochdeutsch und Schweizerdeutsch.

„Das sind aber keine zwei Sprachen“, entgegnet Laura. „Doch“, antwortet Max. „Schweizerdeutsch klingt ganz anders.“ Und tatsächlich, als Max mit seiner Mutter Schweizerdeutsch spricht, versteht Laura nichts. Vielleicht hat er recht, denkt sie. Kann sie selbst dann noch mehr Sprachen als Deutsch und Englisch? Deutsch, Schwäbisch und Englisch?

Diese Fragen haben sich sicherlich einige schon gestellt. Was trennt denn eine Sprache von einem Dialekt? Ist Verständnis tatsächlich eine Komponente, die ausschlaggebend dafür ist, ob es sich dabei um eine Sprache oder einen Dialekt handelt? Eine stark verkürzte Antwort auf diese Frage kann mit dem Satz „Das ist nicht ganz so einfach“ gegeben werden. Eine ausführlichere Antwort kann im folgenden Artikel gefunden werden.

Das ist gar nicht so einfach – auch nicht für Linguist:innen

Ich selbst erfuhr von der Sprache-Dialekt-Problematik in meinem Romanistikstudium. Alles fing damit an, dass der Begründer der Romanistik, Friedrich Diez (1794-1876), erklärte, dass es sechs romanische Sprachen gebe: Italienisch, Rumänisch, Spanisch, Portugiesisch, Provenzalisch und Französisch. Ungefähr 120 Jahre später zählte Heinrich Lausberg bereits zehn romanische Sprachen, Lindenbauer et al. im Jahre 1994 schließlich 15. Haben sich etwa über die Jahre hinweg mehr Sprachen herausgebildet? Oder wurden manche Sprachen einfach als Dialekte einer betrachtet? Wie grenzen wir Sprachen von Dialekten ab? Nach welchen Kriterien? Um ein wenig objektiver vorzugehen, benutzt die Linguistik gerne den Begriff „Varietät“. Dies gilt nicht nur für Dialekte, sondern auch für Soziolekte.

Eine Sache noch, bevor ich ein paar Kriterien oder auch vermeintliche Möglichkeiten aufzeige, die helfen können eine Sprache von einem Dialekt abzugrenzen. Wenn ich hier den Begriff Sprache verwende, meine ich Einzelsprachen. In der strukturalistischen Sprachwissenschaft nach Ferdinand de Saussure wird hierfür der Begriff langue verwendet, im Gegensatz zu langage, welcher die Sprachfähigkeit bezeichnet. In Bezug auf die Sprache-Dialekt-Problematik, soll Sprache als der übergeordnete, Dialekt als der untergeordnete Begriff verwendet werden.

Ist eine Sprache, die Sprache eines Staates?

Ich rechne hier schon damit, dass der Aufschrei groß sein wird. Es mag hier etwa Österreicher:innen geben, die nun antworten werden, dass sie doch auch deutsch sprechen, dass Österreich aber nun doch ein eigener Staat sei. Damit haben sie auch recht. Allerdings ist es gar nicht so unüblich, dass mit dem Begriff Sprache all diejenigen Varietäten gesammelt werden, die innerhalb eines Staates gesprochen werden. So ähneln sich beispielsweise das Serbische und das Kroatische sehr und die eine Varietät kann als Dialekt der anderen angesehen werden und trotzdem werden beide jeweils als Sprache betrachtet. Aber, wie bereits erwähnt, gilt dies nicht immer. So gibt es Schätzungen zufolge etwa 3000-5000 Sprachen, jedoch ungefähr nur 200 Staaten. Dieses Kriterium ist also hinfällig, jedoch erwähnenswert, da es gleichsam eine politische Dimension jener Sprache-Dialekt-Dichotomie aufzeigt.

Ist eine Sprache immer verschriftet?

Ein Kriterium, das ebenfalls politisch, nicht aber unbedingt sprachwissenschaftlich ist, ist eine Varietät als Sprache anzusehen, wenn diese verschriftet ist. Im Idealfall weist eine Varietät hierbei eine lange Tradition der Verschriftung vor. Hmm … also ist unser Schwäbisch aus der Einleitung also doch eine Sprache? Laura hat bereits „Asterix schwätzt schwäbisch“ gelesen. Und ihre Großmutter hatte ihr immer bayrische Kinderlieder vorgesungen. Aber gibt es auch Biologiebücher auf schwäbisch? Wohl kaum. Das mit der Verschriftung ist also ebenfalls problematisch. Schätzungsweise sind nur etwa ein paar hundert Sprachen der Welt verschriftet. Und eine Tradition haben viele auch nicht vorzuweisen.

Gegenseitige Verständlichkeit?

Ich komme auf den Impuls vom Anfang zurück, ob gegenseitige Verständlichkeit ein Kriterium ist um Sprache und Dialekt voneinander abzugrenzen. Das heißt: wenn die Verständigung zwischen zwei Varietäten nicht möglich ist, werden sie eher als zwei getrennte Sprachen eingestuft, als als unterschiedliche Dialekte einer Sprache. Leider ist auch dieses Kriterium nicht ganz objektiv. Denn ob eine  gegenseitige Verständlichkeit gewährleistet ist, hängt auch von den individuellen Kompetenzen der Sprecher:innen beziehungsweise der Zuhörer:innen ab. Ich selbst verstehe beispielsweise einige deutsche Dialekte besser als andere. Außerdem kenne ich genug Personen, die etwas vorurteilsbehaftet Dialektsprecher:innen zuhören und diese auch nicht verstehen wollen.

Mit welchen Kriterien arbeitet denn nun die Sprachwissenschaft, wenn die oben genannten ach so problematisch sind. Ich zeige hier nun drei nicht ganz unumstrittene Kriterien auf, an denen man sich bei der Abgrenzung zwischen Sprache und Dialekt entlanghangeln kann.

Abstand

Ein Kriterium, dem sich die Linguistik bedient ist die sogenannte objektive Komponente. Diese liegt in der Sprachstruktur, das heißt, dass je größer der Abstand zwischen zwei Varietäten ist, desto eher werden sie als unterschiedliche Sprachen eingestuft. Auch wenn diese Komponente objektive Komponente genannt wird, so ist sie nicht ganz so objektiv. Wie viele einzelne Laute müssen sich unterscheiden? Wie viele Wörter (Wörter sind generell problematisch, aber das ist eine andere Geschichte)? Wie groß sollen die grammatischen Unterschiede sein? Und wie wird das ganze gewichtet? Zählt die Phonetik hierbei mehr als die Syntax? Oder weniger? Ganz eindeutig kann diese Frage also auch nicht beantwortet werden.

Ausbau

Beim Ausbau handelt es sich um eine funktionelle Komponente. Es stellt sich also die Frage, in wie weit eine Sprache verschriftet oder auch standardisiert ist. Existieren Beschreibungen der Varietät, wie etwa in Form von Lexika oder Grammatiken? Wird in jener Varietät in der Schule unterrichtet? Oder wird sie in der Verwaltung eingesetzt? Je weiter eine Varietät ausgebaut ist, desto eher wird sie als Sprache eingestuft.

Sprachbewusstsein

Eine weitere Komponente, mittels derer man Sprachen von Dialekten abgrenzen kann, ist die subjektive Komponente. Wie groß ist das Bewusstsein einer Sprachgemeinschaft eine Sprache oder einen Dialekt zu sprechen?

Die Komponenten gehen Hand in Hand

 Im Idealfall gehen bei der Frage, ob es sich bei einer Varietät um eine Sprache oder um einen Dialekt handelt, alle Komponenten Hand in Hand. Je weniger stark die Komponenten ausgeprägt sind, desto eher wird eine Varietät als Dialekt eingestuft und seltener als Sprache. Soweit die Theorie. In der Regel sind die Komponenten unterschiedlich stark ausgeprägt. Ein starker Ausbau kann im Übrigen einen geringen Abstand kompensieren. Dies ist der Fall beim Tschechischen und Slowakischen. Beide Varietäten weisen nur wenig sprachstruktuelle Unterschiede auf, sind aber jeweils sehr gut ausgebaut, weshalb sie als Sprachen angesehen werden. Umgekehrt trifft der Fall jedoch nicht zu. Dies trifft zum Beispiel auf benachbarte Varietäten des Frankoprovenzalischen zu. Diese werden als Dialekte angesehen, auch wenn der Abstand deutlich größer ist, da sie nicht ausgebaut sind. Selbiges gilt für arabische Dialekte, auch wenn der sprachstrukturelle Unterschied zum Hocharabischen teils sehr groß sein kann. Für jene Varietäten ist auch das Sprachbewusstsein entscheidend, welches hierbei eher schwach vorhanden ist. Jene subjektive Komponente scheint jedoch manchmal von entscheidender Bedeutung zu sein. Ein Beispiel dafür ist das Korsische, das geringe Unterschiede zum Italienischen aufweist und auch eher schwach ausgebaut ist. Das Sprachbewusstsein der Sprecher:innen ist jedoch enorm. Um jene Abgrenzung zu verdeutlichen, unterscheidet sich die Rechtschreibung vom Italienischen. Das eigentliche Lautinventar unterscheidet sich jedoch kaum.

Okay, also ist das Sprachbewusstsein die entscheidende Komponente und man sollte einfach die Sprecher:innen fragen, ob sie eine eigenständige Sprache oder einen Dialekt sprechen? Ganz so einfach ist es nicht: Der Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu führt hierzu an, dass Sprachbewusstsein oftmals mit einer gewissen Ideologie zusammenhängt. Jene wiederum hängt von anderen Faktoren und Umständen ab und kann sich auch ändern. Es stellt sich auch die Frage, ob eine gewisse Varietät eine Lobby hat, die hinter ihr steht.

Umso wichtiger ist es also nochmal zu betonen, dass alle Komponenten Hand in Hand gehen müssen und dass auch hier es nicht ganz so einfach ist objektiv zu bewerten, ob es sich um eine Sprache oder einen Dialekt handelt. Diese Klassifizierung ist also nicht komplett willkürlich, aber auch nicht ganz systematisch. Sie wird die Sprachwissenschaft und die Dialektologie noch weiter beschäftigen. Wie und mit welchen Methoden ist ein anderes Thema.

Zurück zum Anfang: Ist Schweizerdeutsch nun eine Sprache oder ein Dialekt? Was meint ihr? 

 

#alugha

#everyoneslanguage

#doitmultilingual

 

Quellen und weiterführende Literatur:

Coseriu, Eugenio (1980): "Historische Sprache" und "Dialekt". In: Göschel, Joachim (ed.): Dialekt und Dialektologie. Wiesbaden: Steiner, 106-122

Diez, Friedrich (1836/1882): Grammatik der romanischen Sprachen. 5. Auflage. Bonn:Weber, 1882

Gabriel, Christoph & Meisenburg, Trudel (2007): Romanische Sprachwissenschaft, Paderborn: Wilhelm Fink

Lausberg, Heinrich (1969): Romanische Sprachwissenschaft. Bd. 1 Einleitung und Vokalismus. Berlin: de Gruyter 

Lindenbauer, Petra; Metzeltin, Michael & Thir, Margit (1994): Die romanischen Sprachen. Eine einführende Übersicht. Wilhelmsfeld: Egert

 

Bildquelle: Leonardo Toshiro Okubo via Unsplash

Also für mich ist Schweizerdeutsch eindeutig ein Dialekt, der sich aus Südbaden über das Allemannische in Richtung Schweizer Grenze bewegt und sich dabei immer weiter von der „Hochsprache“ entfernt. Aber das ist nur meine subjektive Meinung. Danke an Dich, Lisa Marie, für Deine Analyse, die zeigt, dass auch die Sprachwissenschaft keine eindeutige Antwort liefern kann.

Gerne und danke für deinen Kommentar. Ich glaube, dass die Linguistik hier auch ein bisschen interdisziplinär arbeiten muss.

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