(Verbale) Gewalt unter der Geburt -- Interview mit Katharina

Zum Roses Revolution Day, der auf das Thema Gewalt unter der Geburt aufmerksam machen soll, widme ich mich bei alugha dem Thema Gewalt mittels Sprache und spreche dazu mit einer großen Verfechterin für eine selbstbestimmte, friedvolle Geburt.

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Am 25. November ist Roses Revolution Day. Hierbei handelt es sich um einen globalen Aktionstag, der sich gegen Gewalt in der Geburtshilfe richtet und dessen Ziel es ist. auf gewaltsame und missbräuchliche Erfahrungen im Geburtsverlauf aufmerksam zu machen. Betroffene werden dazu ermutigt, Rosen und optional auch einen Brief vor den Einrichtungen niederzulegen, in denen sie Gewalt erfahren haben. In einer etwas weiteren Auslegung des Tages wird auch auf das Thema “Gewalt im Wochenbett” aufmerksam gemacht. 

Und was hat das alles mit alugha zu tun?

Bei alugha ist uns Sprache ein wesentliches Anliegen. Auch durch Sprache kann man gewaltvolle oder eben friedvolle Taten vollbringen. Ein weiterer Herzensaspekt ist bei alugha die Mehrsprachigkeit und das globale Interagieren. Das Thema Gewalt in der Geburtshilfe ist globales Phänomen. Aus diesem Grund fand ich das Thema durchaus passend. 

Dieses Thema ist jedoch vielschichtig Deshalb sprach ich über (verbale) Gewalt in der Geburtshilfe mit Katharina. Katharina ist Mutter von drei Erden- und einem Sternenkind, Betriebswirtin, Tänzerin, Autorin, Bloggerin und im deutschsprachigen Raum DIE Person, die für eine friedliche Geburt für alle Gebärenden kämpft. Auf ihrem Blog Ichgebäre findet man unter anderem Geburtsgeschichten.

Liebe Katharina, Ich freue mich, dass du dir die Zeit genommen hast, bitte stell dich für unsere Leser:innen kurz vor. Wer bist du? Was machst du?

Mein Name ist Katharina Tolle. Ich bin Mama dreier Wuselkinder und eines Sternenkindes und ich schreibe Geburtsgeschichten für Eltern, denen selbst die Worte (und die Zeit) fehlen. Außerdem betreibe ich einen Blog, Ich Gebäre, auf dem es um die Schnittstelle zwischen Geburten, Gesellschaft und Feminismus geht. Ich setze mich ein für eine Geburtshilfe, die sich an den Wünschen der gebärenden Frau orientiert. Dafür braucht es einerseits den gesellschaftlichen Konsens, dass Geburten uns prägen und dass wir sie nicht als unwichtig abtun dürfen. Andererseits braucht es aber auch konkrete politische Änderungen sowie ein Bewusstsein der Schwangeren für ihre Rechte und Möglichkeiten.

 

Das Thema "Gewalt unter der Geburt" ist ja noch immer ein Tabuthema. Kaum einer spricht darüber. Allerdings ist es kein Einzelfall. Hast du konkrete Zahlen, wie viele Gebärende Gewalt erleben?

Es gibt keine einheitliche Definition von Gewalt unter der Geburt. Das macht die Auswertung so schwierig. Und selbst wenn es diese Definition gäbe, wäre die Dunkelziffer hoch. Es heißt in den Medien immer wieder, dass ungefähr jede dritte Frau Gewalt unter der Geburt erlebe.

 

Was fällt denn alles unter "Gewalt"?

Das ist genau der springende Punkt: Wo fängt Gewalt an; wo hört das berechtigte Interesse des Personals auf? Jede Frau kann eine oberflächlich ähnliche Situation auch ganz anders erleben. Ich nenne mal ein paar Beispiele:

  • Ein Dammschnitt wird gemacht, ohne dass vorher das Einverständnis der Gebärenden eingeholt wird.

  • Die Gebärende wird in einer Position gehalten, die sie nicht einnehmen will -- zum Beispiel in Rückenlage. Das war früher noch extremer, als Frauen sogar auf den Betten festgebunden wurden.

  • Es fallen Sprüche wie "Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an, das haben vor Ihnen schon tausende Frauen erlebt."

 

Das ist hier ein Sprachblog. Bleiben wir beim Thema "verbale Gewalt" und "Kommunikation". Was fällt alles darunter?

Wie schon angedeutet: Was von der einen Person als übergriffig oder gewalttätig abgetan wird, verletzt andere gar nicht. Da kommt es auch sehr auf die persönlichen Umstände an. Es kann darum gehen, die Wahrnehmung der Gebärenden nicht ernst zu nehmen -- wie zum Beispiel beim Absprechen von Schmerzen. Es kann aber auch um persönliche Dinge gehen. Es klingt unglaublich, aber eine Freundin erzählte mir vor einiger Zeit, dass ihr im Kreißsaal gesagt wurde: "Ach, als Afrikanerin bekommen Sie ihr Baby doch bestimmt tanzend -- Sie brauchen keine Hilfe." Danach fühlte sie sich zu eingeschüchtert, um nach Schmerzmitteln zu fragen. Das Beispiel zeigt auch, dass es nicht immer um böse Absicht geht. Im Gegenteil: Viele Situationen, die von den Gebärenden (oder ihren Partner*innen) im Nachhinein als übergriffig oder gewaltvoll bezeichnet werden, entstehen aufgrund unzureichender Zustände in den Kliniken. Das Personal ist manchmal schlicht zu überlastet, um einer Gebärenden in Ruhe zuzuhören, wenn diese zwischen den Wehen versucht, zu beschreiben, was in ihr vorgeht.

Übrigens ist es auch ein Problem, die Erfahrungen der Frauen gegeneinander auszuspielen: "Ach, bei dir waren es nur Worte. Ich wäre ja fast verblutet, weil mich niemand ernst genommen hat." Es ist häufig nicht klar, was "nur" übergriffig ist und was "gewaltvoll". Doch beide Frauen haben Gewalt erlebt, die für sie persönlich nur schwer zu akzeptieren ist. Auch international ist verbale Gewalt sehr verbreitet. Sie äußert sich sehr unterschiedlich: Von Vernachlässigung bis hin zu unterlassener Hilfeleistung über "dumme Sprüche" bis hin zu Kaiserschnitten aus finanziellen Gründen ist da alles dabei.

 

Wie können Hebammen/Ärzt:innen ihre Formulierungen ändern?

Natürlich ist es sinnvoll, Sprüche über Hautfarbe, Herkunft oder Alter der Gebärenden einfach stecken zu lassen. Da hilft es vermutlich schon, wenn die Kreißsäle selber ein diverses Personal aufweisen. Natürlich helfen hier auch sensibilisierende Fortbildungen.

Ich höre außerdem immer mal wieder den Vorschlag, dass ärztliches Personal Entscheidungen zunächst als Frage formulieren sollte: "Ich mache einen Dammschnitt, wenn das für Sie okay ist?" Das ist für Frauen, die sich vorher mit dem entsprechenden Thema auseinander gesetzt haben, bestimmt eine gute Lösung. Viele Frauen beschäftigen sich allerdings mit den medizinischen Details vorher nur wenig. Wenn dann medizinisches Personal fragt, ob eine bestimmte Handlung vorgenommen werden soll, ist das wiederum problematisch: Die Verantwortung für die Entscheidung liegt dann bei der Gebärenden. Die Geburt ist so oder so schon eine Ausnahmesituation. In dieser Situation sind spontane Entscheidungen nicht immer möglich.

Der Schlüssel liegt für mich deshalb in einer kontinuierlichen Betreuung. Wenn Frauen bereits während der Schwangerschaft mit dem Personal sprechen, das dann auch bei der Geburt dabei ist, hat das gleich mehrere Vorteile: Zum einen kann man sich sprachlich an einander gewöhnen. Die Schwangere ist dann nicht mehr überrascht, wenn eine Hebamme bestimmte Formulierungen nutzt. Die Geburt unserer Tochter war als Hausgeburt geplant. Ich traf die Hebamme während der Schwangerschaft regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen. Auch mein Mann war gegen Ende der Schwangerschaft bei einem dieser Termine dabei. Und da besprachen wir zum Beispiel auch, dass unsere Hebamme im Falle einer medizinisch notwendigen Verlegung im Telefonat mit dem Rettungsdienst sehr drastische Worte benutzen würde -- selbst, wenn die Situation gar nicht so eilig wäre. "So kann ich sicherstellen, dass sie wirklich den Hubschrauber schicken statt des Rettungswagens." Der Fall trat nicht ein, unsere Tochter kam sehr entspannt zu Hause zur Welt. Und dennoch bin ich froh, dass wir vorher besprochen hatten, wie es abgelaufen wäre. Zum anderen lernt man aber auch die Vorlieben und Verhaltensweisen der Gegenüber kennen und kann diese besser einschätzen. So eine kontinuierliche Betreuung ist übrigens nicht nur bei außerklinischen Geburten möglich. Auch manche Kliniken arbeiten mit Beleghebammen zusammen, die sich bereits während der Schwangerschaft um die Schwangere kümmern und dann auch bei der Geburt dabei sind. Selbst ohne Beleghebamme würde sich ein Großteil der verbalen Gewalt im Kreißsaal vermutlich beheben lassen, wenn das Personal nicht so viel zwischen verschiedenen Kreißsälen springen müsste. Wer sich auf eine Person (oder ein Paar) konzentrieren kann, bekommt schneller mit, wie die Kommunikation abläuft, als eine Person, die ständig verschiedene Menschen betreut.

 

Welche Rolle kann hierbei der Vater oder eine Doula oder eine sonstige Geburtsbegleitung spielen? Wie können sie helfen, dass eine Geburt weniger gewaltvoll ist? Mit welchen sprachlichen Äußerungen?

Im Normalfall kennt ein*e Partner*innen oder Doula die Gebärende bereits so genau, dass eine bessere Einschätzung möglich ist: Wodurch zeichnet sich für die Gebärende wertschätzende Kommunikation aus? Diese Geburtsbegleiter*innen können also die Gebärende so ansprechen, dass es ihr dabei gut geht. Außerdem können sie eine Pufferfunktion zwischen Gebärender einerseits und medizinischem Personal andererseits ausfüllen. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass die Frau zwar zwischen den Wehen sagt "ich will lieber Lachgas statt einer PDA", dass aber dann Partner*in oder Doula die weitere Besprechung mit dem Personal führen. Zwar ist auch für sie die Geburt eine Ausnahmesituation, doch meist gelingt es ihnen zumindest, noch kohärent zu sprechen.

Wie kann eine Gebärende vielleicht im Vorfeld kommunizieren, wie sie ihre Geburt gerne hätte?

Bei einer außerklinischen Geburt wird bereits während der Schwangerschaft die Hebamme mit der Schwangeren besprechen, welche Vorstellungen sie hat, welche Ängste und Erfahrungen bei der Geburt eine Rolle spielen. Das ist auch bei Krankenhausgeburten möglich, wenn diese von Beleghebammen betreut werden -- also von Hebammen, die nicht im Schichtsystem arbeiten sondern für bestimmte Schwangere in Rufbereitschaft sind. Selbst wenn das alles nicht gegeben ist, gibt es beim Vorgespräch im Krankenhaus die Möglichkeit, bestimmte Wünsche anzusprechen. Die Erfahrungen von Frauen sind hier sehr unterschiedlich. Manche Frauen haben sehr gute Erfahrungen gemacht; bei anderen wurden Geburtspläne eher belächelt oder rundheraus abgelehnt: "Wenn es medizinisch nötig ist, machen wir das, und dann ist es auch unwichtig, was Sie da aufgeschrieben haben." Hier tritt ein grundsätzliches Problem zutage: Häufig wird Frauen mit bestimmten Wünschen unterstellt, sie würden dadurch ihr Baby gefährden. Dabei geht es keiner psychisch gesunden Frau darum, ihr Baby mutwillig in Gefahr zu bringen. Die Frauen wollen im Gegenteil, dass die Geburt für das Baby und sich selber so unproblematisch wie möglich wird. Was das im Einzelfall heißt, kann sehr unterschiedlich sein: Es kann vom Wunschkaiserschnitt bis zur Alleingeburt reichen.

Manche Frauen schreiben, um ihren Vorstellungen mehr Gewicht zu verleihen, statt eines Geburtsplans eine Patientinnenverfügung. Diese ist rechtlich gesehen nicht so leicht zu umgehen wie ein Geburtsplan.

 

Wo erlebt eine Gebärende seltener Gewalt? Zu Hause?

Es gibt kaum Frauen, die zu Hause Gewalt unter der Geburt erleben. Ich glaube aber, dass das nur indirekt mit dem Geburtsort zu tun hat. Es hat vielmehr mit den Punkten zu tun, die ich bereits genannt habe: Die Gebärende kennt die Hebamme bereits. Sie sind ein eingespieltes Team. Die Hebamme betreut in dieser Zeit keine anderen Gebärenden. Sie ist immer dabei. Es gibt mehr Zeit, Dinge zu besprechen. All das unterstützt eine Geburtserfahrung ohne Gewalt oder gewaltvolle Kommunikation.

 

Was meinst du? Wäre es sinnvoll, wenn auch die Linguistik das Thema "Gewalt unter der Geburt" aufgreifen würde?

In jedem Fall ist es sinnvoll, wenn das Thema aus seiner Nische herausfindet. Die Linguistik ist da genauso gefragt wie andere Fachrichtungen. Lasst uns alleine mal über die Worte nachdenken, die wir im Deutschen so nutzen: Kreißsaal kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet schreien. Das rhythmische Zusammenziehen der Gebärmuskulatur unter der Geburt bezeichnen wir als Wehe. In der Bibel heißt es (zumindest in der deutschen Übersetzung), die Frau solle unter Schmerzen gebären. Da gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Ansätzen, die linguistisch aufbereitet werden könnten.

Und speziell zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe könnte die Linguistik vermutlich schon einiges erreichen, wenn es einfach mal Studien gäbe zu all den "blöden Sprüchen", die im Kreißsaal so fallen. Damit kämen wir raus aus dem Erzählen von Anekdoten und hin zu einer wissenschaftlich fundierten Quellenlage.

 

Was wünscht du dir für die Zukunft für die Geburtshilfe?

Ich wünsche mir, dass die Geburtshilfe die Oberhand über die Geburtsmedizin wiedererlangt. Dass Frauen geholfen wird, wenn sie Hilfe brauchen; dass sie aber dabei nicht bevormundet werden. Dafür braucht es Einsatz auf politischer, gesellschaftlicher, medizinischer und persönlicher Ebene. Es ist vermutlich ein langer Weg, aber er lohnt es sich, zu gehen. Denn jede Geburt ist einzigartig und sollte einen entsprechenden Stellenwert für uns alle haben.

 

Diese Frage stelle ich zuletzt allen. Hat nichts mit Geburtshilfe zu tun: welche Sprachen sprichst du und welche Sprachen würdest du gerne lernen?

Meine Muttersprache ist deutsch. Ich spreche fließend Englisch. Mein Latinum und meine Altgriechischkenntnisse dagegen existieren nur auf dem Papier. Ich habe großen Spaß daran, das kyrillische Alphabet zu lesen, wann immer mir Worte ins Auge springen. Ich verstehe aber kein Wort russisch. Dank zweier Auslandsaufenthalte spreche ich außerdem finnisch -- wobei das in den letzten Jahren leider etwas eingerostet ist. Für Familienurlaube reicht es aber immer noch. Oh, und mit meiner Oma spreche ich Plattdeutsch! Wenn ich die freie Wahl und sehr viel Zeit hätte, würde ich vermutlich polnisch lernen, da wir in Brandenburg wohnen und ich es schade finde, dass ich jenseits der Grenze kein Wort verstehe. Das Projekt Europa ist mir zu wichtig, um das zu ignorieren. Und rein weil es sehr cool ist, würde ich auch gern ein paar Brocken klingonisch lernen :-)

Fassen wir also zum Schluss noch einmal zusammen:

  • Gewalt unter der Geburt kann psychisch und physisch erfolgen. Es gibt dazu keine einheitliche Definition

  • Verbale Gewalt kann vom Anschreien bis zu rassistischen Diskriminierungen reichen

  • Wichtig für die Gebärende ist die Selbstbestimmung. Aus diesem Grund ist es sinnvoll im Vorhinein Rechte abzuklären. 

Bei alugha haben wir bereits ein paar Videos über das Thema “Geburt”. Wenn du auch ein mehrsprachiges Video über Geburten oder jedwedes andere Thema drehen möchtest, registriere dich hier.

 

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Foto: Valeria Boltneva/Pexels

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