Gelebte Mehrsprachigkeit -- Teil 3: Interview mit L.

Es ist wieder an der Zeit mit verschieden Menschen über ihren mehrsprachigen Alltag zu reden. Heute spricht L. mit mir über die bilinguale Erziehung ihrer Söhne und über die verschiedenen Rechenmethoden

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Die Fotografin L. ist dreißig Jahre alt, Mutter von zwei Söhnen und kommt ursprünglich aus einem russichen Dorf in der Ukraine. Seit acht Jahren lebt sie in Deutschland. Heute spreche ich mit ihr über die deutsch-russischsprachige Erziehung ihrer Kinder, über unterschiedliche Methoden in der Mathematik und vieles mehr. 

Hallo L., ich freue mich sehr dich kennenzulernen. Erzähle bitte unseren Lesenden etwas mehr über dich. 

Ich wohne seit sieben Jahren in Öhringen und seit acht Jahren in Deutschland. Ich bin damals als Au Pair aus der Ukraine nach Hamburg gekommen. Zu Hause haben wir russisch gesprochen. In der Schule habe ich ukrainisch und englisch gelernt. Meine Oma war Deutschlehrerin und sie brachte mir ab der dritten Klasse deutsch bei. Sie wünschte sich, dass ich Übersetzerin werde. Ich habe jedoch in der Ukraine Ingenieurwesen studiert. Also eine ganz andere Richtung. Dennoch hat sich meine Oma gewünscht, dass ich für ein Jahr nach Deutschland gehe. Sie hat sich einfach gewünscht, dass ich die deutsche Sprache ein bisschen weiter lerne. Sie hat einige Schüler:innen gehabt, die nun in Deutschland wohnen und als Psycholog:innen oder dergleichen arbeiten. Das sind coole Mädels. Sie wünschte sich das auch für mich. Deshalb habe ich in Hamburg für ein Jahr als AuPair gearbeitet. Meine Schwester studierte dort bereits Wirtschaftsingenieurwesen. Sie ist ein sehr kluges Mädchen. Für mich wäre das zu schwer. Jedenfalls bekam ich dann einen Platz in einer deutschen Gastfamilie. So sprach ich viel deutsch. Russisch sprach ich dann nur mit meiner Schwester. Sie wiederum hatte Bekannte aus der ganzen Welt. Nach diesem Jahr überlegte ich mir zurück in die Ukraine zu gehen. Schließlich hatte ich fünf Jahre studiert und ich wollte in Deutschland nicht noch einmal damit anfangen.

Wurde dein Abschluss in Deutschland nicht anerkannt?

Nein, leider nicht. Es gibt Fächer, die anerkannt werden. Ich hatte mich auch darum bemüht ein paar meiner Leistungen anerkennen zu lassen, aber es war klar, dass ich noch einmal fünf Jahre studieren muss. Dann lernte ich meinen Mann kennen, der bereits seit 13 Jahren in Deutschland lebte. Ich wusste lange nicht, dass hier Russlanddeutsche leben. In Hamburg hatte ich außer zu meiner Schwester keinen Kontakt zu anderen Russischsprachigen. Als ich gesehen hatte wie die Familie von meinem Mann lebt, konnte ich mir schon eher vorstellen in Deutschland zu leben. Seine Familie und auch unsere Nachbarn leben sehr russisch. Es fühlte sich an wie zu Hause. Trotzdem habe ich ungefähr fünf Jahre gebraucht um hier anzukommen. Es braucht seine Zeit, denn es ist nicht einfach in einem fremden Land, in dem man eine andere Sprache spricht, sich zu integrieren. Mir fehlen manchmal auch Ausdrücke. Man kann ja nicht alles übersetzen. 

Die Familie meines Mannes spricht viel deutsch. Aber sie vermischen beide Sprachen auch. Nur mein Mann spricht fast ausschließlich russisch. Das ist ihm wichtig. Er schaut auch russisches Fernsehen, liest nur russische Bücher und unterhält fast nur russische Freundschaften. Das ist seine Herzenssprache. Für ihn würde es sich auch nicht natürlich anfühlen mit den Kindern deutsch zu sprechen.

Sprecht ihr beide zu Hause mit den Kindern dann konsequent russisch?

Ja, wir sprechen konsequent russisch mit unseren Kindern. Allerdings wohnt die Familie meines Mannes mit uns im Haus und spricht dann auch viel deutsch. Wir als Eltern sprechen aber nur russisch. Zu Hause lesen wir auch russische Bücher und schauen russische Filme mit den Kindern.  Auch singen wir russische Lieder. Wir waren einmal in einer Krabbelgruppe, in der deutsche Kinderlieder gesungen wurden. Zu Hause hätte ich natürlich auch die deutschen Lieder singen können. Ich habe die Lieder ja auch gelernt, aber ich wollte dann lieber die russischen singen. Auch das ist Teil unseres Konzepts. 

Als mein erstes Kind in den Kindergarten kam hatten wir eine rein deutschsprachige Erzieherin, die uns riet ausschließlich gutes Russisch mit den Kindern zu sprechen. Das tun wir auch. Ich gebe vor ihn nicht zu verstehen, wenn er deutsch spricht. Gleichzeitig versicherte die Erzieherin uns auch gutes Deutsch mit unserem Sohn zu sprechen. Er lernte es sehr schnell. Es fällt ihm jetzt in der Schule leicht. Er vermischt das Deutsche und das Russische nicht. 

Unser Kinderarzt hat uns ebenfalls geraten Russisch zu sprechen. Seine Worte haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Er sagte, es könnte sein, dass ich,  wenn mein Sohn weiterhin so schnell deutsch lernt, ihn nicht mehr verstehen könnte, wenn er deutsch spricht. Deshalb sollte ich konsequent sauberes Russisch mit ihm sprechen, damit dies die Sprache bleibt, in der wir beide kommunizieren können.

 

Was L. hier beschreibt, nennt sich une personne-une langue-Prinzip, welches als Goldstandard für die mehrsprachige Erziehung gilt. Ob das immer praktikabel ist, ist eine andere Geschichte.

Nehmen die Kinder zusätzlichen Russischunterricht um alphabetisiert zu werden?

Das noch nicht, aber meine Mutter ist Grundschullehrerin. Sie war einst einen Monat bei uns hat unserem Sohn beigebracht Russisch zu lesen. Er kannte das Alphabet schon, aber er hat so schnell gelernt. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das geschafft hat. Es ist schon lustig. Meine Oma brachte mir deutsch bei, die Oma meiner Kinder bringt ihnen russisch bei. In Russland und in der Ukraine lernen die Kinder schon lesen, schreiben und rechnen, bevor sie in die Schule kommen. Ungefähr im Alter von fünf Jahren.

Mein Sohn hat nun das erste Schuljahr fast beendet. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er in der Schule das Russische verlernt. Aber nun hat sich das gelegt. Folgendes ist sehr interessant: Ich dachte Mathematik sei überall gleich, aber die Technik etwas zu Rechnen ist sehr unterschiedlich. Wenn ich also mit meinem Sohn Mathe übe, erzählt er mir zunächst auf deutsch, was er macht und später dann übersetze ich auf russisch. Ich möchte ihn nicht mit den unterschiedlichen Methoden verwirren.

Stell dir mal vor deine Söhne möchten später, dass du mit ihnen Geschichte lernst oder Biologie und du hast ihre Hefte vor dir. Würdest du das direkt auf russisch übersetzen?

Das ist schwierig. Wir werden sehen. Aktuell haben wir viele Sachbücher auf russisch. In der Schule lernen sie das was in den Büchern steht etwas später. Mein großer Sohn kann dann auf seinen russischen Erfahrungsschatz zurückgreifen und das Bild beiden Sprachen zusammensetzen.

Mein kleiner Sohn spricht noch nicht so viel. Ich weiß nicht, wie es für ihn einmal sein wird. Ob er mehr deutsch sprechen wird, als russisch? Auch hier werden wir sehen, was passiert. 

Wie spricht euer Großer denn den Kleinen an? Auf russisch?

Ja, er spricht mit ihm nur russisch. Wir sagen ihm auch, dass er das soll. Aber wenn die Kinder dann beide zur Schule gehen, kann es sein, dass die beiden Brüder untereinander auch deutsch sprechen. Ich mache mir durchaus Gedanken, wie es mit dem Kleinen sein wird. Wenn er weiterhin so wenig spricht, wird er im Kindergarten dann viel Input in deutscher Sprache bekommen. Ich habe es auch schon erlebt, dass in einer Familie die Kinder unterschiedliche Sprachen sprechen. Bei meinem Mann ist es ja auch so. Er spricht hauptsächlich russisch, seine Schwester deutsch. 

Ich habe einmal gelesen, dass mehrsprachige Kinder es nicht so leicht haben werden, weil der Wortschatz in beiden Sprachen nur sehr eingeschränkt sein wird.

Da kann ich dich beruhigen. Die Mehrsprachigkeitsforschung, wie sie heute betrieben wird, ist noch nicht so alt. Im Jahre 1978 wurde die erste längere Studie von Traute Taeschner und Virginia Volterra durchgeführt. Diese wurde scharf kritisiert, aber so wurde die Forschung in diesem Bereich vorangebracht. Davor dachte man lange Zeit Mehrsprachigkeit sei etwas Schlechtes und man befürchtete eine “Halbsprachigkeit”. Dies war sehr mit Vorurteilen belastet und die Kriterien, um jene “Halbsprachigkeit” festzustellen, waren nicht objektiv. Heute ist man von dieser Idee abgekommen. Mehrsprachigkeit wird nicht mehr negativ, sondern eher positiv gesehen. Du musst dir da also überhaupt keine Sorgen machen. Außerdem ist die Mehrheit der Weltbevölkerung mehrsprachig. Monolingual ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung.

Ich sehe auch eher Vorteile in der Mehrsprachigkeit. Ich habe erst im Schulalter andere Sprachen als Russisch gelernt und kann beispielsweise nicht so gut Englisch. Als ich nach Deutschland kam, tat ich mir mit dem Deutschen auch sehr schwer. Ich bin so froh, dass mein Sohn beide Sprachen richtig gut beherrscht. Auch finde ich es gut, dass man durch die Digitalisierung und das immer nähere Zusammenwachsen der Welt heutzutage bessere Möglichkeiten hat bei Muttersprachler:innen Unterricht zu nehmen. Diese Möglichkeit hatte ich früher nicht.

Ja, ich kenne das. Mein Unterricht war lange auch bei Nicht-Muttersprachler:innen. Als ich später die Schule wechselte und bei Französinnen*Franzosen Unterricht hatte, wurde mir auch auf Französisch sehr viel angestrichen, weil ich sehr an der deutschen Struktur festgehalten habe. Meine nicht muttersprachlichen Lehrer:innen hatten das gar nicht gesehen, aber dort fiel es auf. Hätte ich von Anfang an Unterrichten bei Muttersprachler:innen gehabt, wäre das sicher anders gewesen.

Ja, deshalb finde ich es gut, dass es diese Möglichkeit gibt. Diese Entwicklung finde ich gut. Und ich freue mich meinen Kindern das Russische weitergegeben zu haben.

Habt ihr viele russische Freund:innen?

Mein älterer Sohn hat deutsche und russische Freund:innen. Seine beste Freundin kennt er seit er ein Jahr alt ist und spricht mit ihr ausschließlich russisch. Im Kindergarten wollten sie immer zusammen russisch sprechen, aber die Erzieherin hat sie ab und an getrennt, sodass beide auch mit deutschsprachigen Kindern in Kontakt kommen und sich in der deutschen Sprache üben. Auch in der Schule wurden sie dann auseinander gesetzt. Aber wenn sie miteinander spielen, sprechen sie immer nur russisch. Mein Sohn redet dann aber direkt deutsch, wenn ein anderes Kind dazu kommt. Seine Freundin tut sich mit dem Deutschen ein wenig schwer. Bei ihr zu Hause ist die komplette Umgebung auf russisch. Im Kindergarten dauerte es ein Jahr, bis sie deutsch lernte. Sie hat auch nicht so viele Kontakte zu deutschsprachigen Kindern. Bei uns ist es ja so, dass meine Kinder durch die auch deutschsprachigen Großeltern und Cousinen immer etwas vom Deutschen mitbekam. 

Was die mehrsprachige Erziehung angeht, muss man sicherlich auch immer individuell darauf achten, wie das Kind sich entwickelt. Mein Großer Sohn ist sicher sehr sprachbegabt, bei meinem Kleinen weiß ich es nicht. Ich möchte aber nicht, dass der Große mit dem Kleinen deutsch spricht. Aber er wird ihm sicherlich, wenn der Kleine Fragen in der Schule hat, ihm das sicher auf deutsch erklären.

Vielleicht ist das Deutsche später seine Bildungssprache. Alltagskonversationen können immer noch auf russisch geführt werden.

Ja, das kann auch sein. Ich weiß es noch nicht.

Es hat richtig Spaß gemacht mit dir zu reden. Ich danke dir für deine Zeit und deine Antworten.

Mir hat es auch Spaß gemacht. Ich zeige das Interview dann meiner Oma. Sie wird sehr stolz auf ihre Enkelin sein. Außerdem hoffe ich, dass ich in ein paar Jahren besser deutsch kann.

 

#alugha

#everyoneslanguage

#multilingual

 

Bildquelle: Belinda Fewings via Unsplash

 

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deuDeutsch78 64.46%
engEnglish35 28.93%
fraFrançais8 6.61%
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