Es ist nicht selbstverständlich die Muttersprache sprechen zu dürfen

Nicht immer ist es selbstverständlich in der Sprache sprechen zu dürfen, in der man es möchte. Ein paar traurige Beispiele findet ihr im folgenden Artikel

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Triggerwarnung: Dieser Artikel behandelt das Thema Mord und Genozid. Achtet auf euch!

Grausiger Fund nahe Kamloops

Ein Bericht aus der Nachrichten der vergangenen Wochen hat mich bislang nicht losgelassen: Es handelt sich hierbei um den grausigen Fund der Überreste von 215 Kinderleichen in der Nähe der kanadischen Kleinstadt Kamloops. Jene Kinder gehörten zur kanadischen indigenen Bevölkerung und besuchten dort eine Residential School, ein Umerziehungsheim. Die indigenen Kinder wurden ihren Müttern entrissen und in Internate gebracht. Dort wurde ihre Kleidung verbrannt und die Kinder mussten ihre Familien und ihre Kultur sowie ihre Religion hinter sich lassen. Es war ihnen verboten ihre Muttersprache zu spreche. Ziel war die vollständige Anpassung an die kanadische Mehrheitsgesellschaft. Besagte Residential School nahe Kamloops wurde 1890 gegründet und zunächst von der katholischen Kirche getragen. Die dort lebenden Kinder sollten zu braven Christ:innen erzogen werden. 1969 wurde das Heim in staatliche Hände übergeben, aber die Zustände besserten sich nicht. Erst 1978 wurde jene Residential School geschlossen. Von jenen Umerziehungsheimen gab es in Kanada etliche weitere. Das letzte schloss erst 1996. Insgesamt wurden zu jener Zeit in Kanada rund 150 000 indigene Kinder ihren Familien entrissen. (Sexueller) Missbrauch und Gewalt waren an der Tagesordnung. Die Kinder hungerten oft und wurden medizinisch nicht ausreichend versorgt. Viele starben, so wie auch jene Kinder, deren sterbliche Überreste man kürzlich fand. Noch mehr Kinder kehrten nie aus jenen Heimen zurück. Eltern, die sich bei der Schulen nach ihnen erkundigten, bekamen lediglich zu hören, die Kinder seien davon gelaufen. Noch heute sind die Vergehen nicht vollständig aufgearbeitet. Weite Teile der indigenen Bevölkerung machen die Heime Mitverantwortlich für die hohe Alkoholismus-, Obdachlosigkeits- und Drogenabususrate unter Indigenen. Die Probleme reichen bis in die Gegenwart hinein. 

Kulturelle Genozide als weltweites Phänomen

Solche “Umerziehungsmaßnahmen” gab und gibt es zahlreiche, in der Geschichte und auf der ganzen Welt. 

So gab es in Australien die Stolen Generations. Dabei handelt es sich um Aborigine-Kinder, die ab dem 20. Jahrhundert von ihren Familien gewaltsam getrennt und in Heimen, Missionsstationen oder weißen Familien untergebracht wurden, damit sie “wie Weiße” aufwuchsen. Auch dies zog sich bis ins Ende der 1960er Jahre. Zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es die von der SS getragenen Lebensborn-Heime, in die “arisch” aussehende blonde, blauäugige polnische Kinder gebracht wurden und dort unter schlechten Bedingungen lebten. 

Ein aktueller kultureller Genozid

Ein aktuelles Beispiel ist in der uigurischen autonomen Region Xinjang zu sehen, in der Uigur:innen und andere dort lebende muslimische Minderheiten in Umerziehungslagern interniert werden. Offiziell werden jene Minderheiten dort gefangen halten um religiöser Radikalität und Extremismus entgegenzuwirken. In Wahrheit geht es aber um den Wunsch nach Assimilation. Die Gefangenen werden unter den widrigsten Bedingungen dort gehalten. Auch wurden zahlreiche Uigur:innen und andere religiöse Minderheiten zwangssterilisiert oder zu Schwangerschaftsabbrüchen gezwungen. Auch in Fachkreisen wird dies als kultureller Genozid betrachtet. Dies ist jedoch nicht der erste Versuch Minderheiten in China zu sinisieren. 

Die oben aufgeführten Beispiele sind nur einige wenige. Auf diesem Blog geht es in erster Linie um Sprachen und Mehrsprachigkeit. Allerdings ist Sprache politisch. Ein Ethnozid kann auch einen Linguizid beinhalten. Eine Sprache geht verloren, weil Menschen diese nicht sprechen dürfen. Natürlich ist dies nicht der einzige Grund, warum Sprachen sterben. Der Begriff Linguizid wird nur selten verwendet. Spricht man jedoch von Linguizid, dann ist es oft die Folge eines Ethnozids. Denn Sprache ist Teil der Identität, nicht in seiner Sprache sprechen zu dürfen, ist eine klare Einschränkung. In manchen Fällen können Sprachen und zeitgleich Menschen verschwinden. Diese Schnittstelle sollte uns allen im Hinterkopf bleibe. Denn leider ist es nicht selbstverständlich seine Muttersprache sprechen zu dürfen. 

 

#alugha

#everyoneslanguage

#multlingual

 

Quellen: 

https://www.arte.tv/de/videos/087898-000-A/arte-reportage/ (07.06.2021, 13:32)

https://www.arte.tv/de/videos/093799-000-A/misshandelt-und-umerzogen/ (07.06.2021, 13:22)

https://www.dw.com/de/grausige-knochenfunde-in-kanada/a-57710174 (07.06.2021, 13:22) 

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/misshandelt-und-umerzogen-kanadas-first-nations-auf-arte-17289885.html?service=printPreview (07.06.2021,13:21)

https://de.wikipedia.org/wiki/Lebensborn (07.06.2021, 13:34)

https://de.wikipedia.org/wiki/Gestohlene_Generationen (07.06.2021, 13:41)

https://de.wikipedia.org/wiki/Uiguren#Heutige_Situation (07.06.2021, 13:35)

https://de.wikipedia.org/wiki/Umerziehungslager_in_Xinjiang (07.06.2021, 13:37)

 

Bildquelle: Louis Paulin via Unsplash. Das Bild zeigt das hübsch aussehende Kamloops, nahe dem die Kinderleichen gefunden wurden. 

 

Nachtrag: Erst kürzlich wurden im kanadischen Saskatchewan in der Nähe einer Residential School hunderte von Kinderleichen gefunden. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall.

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